Institut für Betrachtung

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Hans-Jürgen Hafner

Fiktion Dada (zu Magnus Wieland, Wie die Nachwelt Dada erfand, Neue Zürcher Zeitung, 13.07.2016)

"Nachträgliche Publikations- und Rezeptionseffekte“ macht der Literaturwissenschaftler und wissenschaftliche Mitarbeiter im Schweizerischen Literaturarchiv, Magnus Wieland, als Grund für die Wirkungsmacht des so genannten „Eröffnungs-Manifest des Dadaismus“ von Hugo Ball aus. Sein Autor hatte es, einschränkend wäre zu sagen: wahrscheinlich, am berühmt gewordenen „1. Dada-Abend“ im Züricher Zunfthaus Zur Waag zur Erläuterung seiner damals im kubistischen Kostüm regelrecht ‚performten’ Lautgedichte als unangekündigtes Extra vorgetragen. Der Vortrag der Lautgedichte war auf dem gedruckten Veranstaltungsplakat als vierter Programmpunkt des Abends vermerkt. Und anders als das erst 1961 erstveröffentlichen Manifest wurden die Gedichte noch zu Balls Lebzeiten ausgiebig publiziert. Das vielfach handschriftlich korrigierte und mit Bleistift am Blattrand als „Erstes Manifest des Dadaismus“ bezeichnete Dokument, dessen Text wir in der Regel nur verzerrt, nach einer späteren Maschinenabschrift kennen, verschwand von der Wissenschaft weitestgehend vernachlässigt im Nachlass Balls.

Wielands in der NZZ vom 14. Juli 2016, genau einhundert Jahre nach besagtem Abend, veröffentlichter Text, weist anhand einer akribisch textkritisch und historisch durchgeführten Spurensuche an den originalen Dokumenten nach, was vermutlich auch für andere künstlerischen Säulen des Projekts Moderne gelten kann: die ursprünglichen Ereignisse und das, was Publikation und Rezeption aus ihnen im Wortsinn ‚machen’, divergieren, und das in oft regelrecht sinnentstellender Weise. Marcel Duchamps Konzept des Ready-mades, die Gründungserzählung der Conceptual Art, Beginn und Ende der Fluxus-Bewegung: vieles, was in den jeweiligen Fachgeschichten als zentraler Fakt erzählt und bis in die akademische Forschung hinein mitunter jahrzehntelang ungeprüft unter dem Siegel der historischen Bedeutsamkeit weiterkolportiert wird, entpuppt sich bei genauem Hinsehen als... Fiktion.

So war, was heute als wirkungsmächtiger und von zahlreichen Dada-Manifesten gefolgter Auftakt gefeiert wurde, laut Hinweisen aus Balls tagebuchartigem Text „Die Flucht aus der Zeit“, zudem aber auch aus der Biographie erhärtbar, eine an die Mitstreiterinnen und Mitstreiter im Geiste Dadas gerichtete Kündigung. Unter anderem mit den Lautgedichten im Programm absolvierten Ball und seine Lebensgefährtin Emmy Hennings im Spätsommer 1916 offenbar eine, vom Effekt her nur schwer vorstellbare, Lese-/Performance-Tour durch innerschweizerische Hotels, bevor sich das Paar zusammen mit Emmys Tochter Annemarie in den Tessin zurückzog. Zur Kunstrichtung avancierte der so genannte Dadaismus derweil durch andere. Und aus dieser Fiktion lässt sich – gerade im Jubiläumsjahr gut zu studieren – immer noch hervorragend Kapital schlagen.

http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/hugo-ball-im-zunfthaus-zur-waag-wie-die-nachwelt-dada-erfand-ld.105392

Magnus Wieland, Hugo Ball

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