Institut für Betrachtung

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Christian Werthschulte

(right now, please) Warum die digitale Gegenwart irgendwie auch nicht besser als die analoge geworden ist

Internet und Digitalisierung funktionieren wie ein Popsong - ein Versprechen, deren Einlösung immer wieder aufgeschoben wird, eine Projektionsfläche, sowohl für utopische Euphorie als auch für ignoranten Kulturpessimismus. Das Sprechen über Digitalisierung und das Netz fällt uns schwer, weil die Form von Technologie nicht ohne ihren polit-ökonomischen und sozialen Rahmen zu denken ist. Vielleicht sprechen wir letztlich über ein altes Problem: Was ist die Basis, was der Überbau, wie verhalten sie sich zueinander? Oder sind ein anderes Computing und ein anderes Netz möglich? Und falls ja, wie kommen wir dorthin?

Eine gekürzte Version von Christian Werthschultes Text aus der - von ihm mit herausgegebenen - testcard #24 (Bug Report: Digital war besser), der auch Thema seiner Vorträge bei IFB-Veranstaltungen in Aachen und Düsseldorf war.

Es ist gar nicht so leicht, die Gegenwart zu begreifen, diesen merkwürdigen Ausschnitt aus der Geschichte, den man eigentlich erst später überhaupt als Moment identifizieren kann. Besonders wenn es ein dabei um ein Thema wie das dieses Textes geht. Über die „Gegenwart“ zu schreiben, versetzt jeden Autoren auch im Zeitalter digitaler Prokrastination noch vor das Problem, das im das letzten Buch von Tristram  Shandy  aufgefächert wird. Der Erzähler ist nach einigen Jahren Familiengeschichte in der Gegenwart angekommen und steht vor dem Problem, dass die Gegenwart nicht auf sein Schreiben warten möchte.

An einem Sonntag im August 2014, als ich in obigen Absatz zum ersten Mal in meine Tastatur hacken wollte, machte ein Hashtag auf Twitter die Runde. Es lautete „#gamergate“ und in die sozialen Medien gesetzt hatten es ein paar selbstdefinierte „Gamer“, also Computerspieler (ja, männlich!). Diese forderten zum Boykott von Computerspielseiten und -entwickler auf, die sich auf die Seite der Spieledesignerin Zoe Quinn geschlagen hatten. Ein Ex-Freund von Zoe Quinn hatte dieser in einem Blogeintrag vorgeworfen hatte, sie hätte ihn mit ein paar Videospiel-Journalisten betrogen. Was sich wie eine frustrierte öffentliche Abrechnung liest, war für die Initiatoren von #Gamergate Grund genug, eine Verschwörung zu vermuten: Quinn und die Videospielpresse würden unter einer Decke stecken und sie habe letztlich nur Sex, um ihre Karriere als Gamedesignerin voranzubringen. Quinn hatte 2013 das Textadventure Depression  Quest über das Depressivsein veröffentlicht, das nicht nur überaus gut besprochen wurde, sondern auch noch ein paar Indiegame-Awards gewonnen hat. Schon nach der Veröffentlichung des Spiels beschwerte sie sich über Angriffe auf ihre Person, der Blogpost ihres Ex-Freundes führte zu neuen Angriffen und schließlich zum #Gamergate.

Zur etwa gleichen Zeit gelangte eine Geschichte ins deutschsprachige Internet, die zuvor ein paar Tage auf amerikanischen Newsseiten zirkuliert war. Die Videobloggerin Anita Sarkeesian veröffentlicht auf ihrer Website Feminist  Frequency   seit einiger Zeit halbstündige Videos über die Darstellung von Frauen in Videospielen. Prinzessin Peach aus der Super-Mario-Serie wird darin zur Wiederkehr des im Viktorianismus populären Motivs der „verfolgten Unschuld“, der „Damsel in Distress“. Ms Pac-Man und Angry Birds dienen als Beispiele dafür, wie eine männlich konstruierte Normativität auch in Casual Games sichtbar ist. Seitdem die ersten Folgen der Serie „Tropes vs. Women“ online gingen, war Sarkeesian wiederholt online Gewalt- und Vergewaltigungsdrohungen ausgesetzt. Schon während der Crowdfunding-Phase für ihre Videoserie wurde ein Computerspiel online gestellt, in dem man ‒ buchstäblich ‒ auf ein Foto von Sarkeesian einprügeln konnte. Ende August, kurz nachdem Sarkeesian eine neue Folge von „Tropes vs. Women“ veröffentlicht hatte, in der sie beschreibt, wie Frauen als Hintergrunddeko in Computerspielen dienen (in Rockstars Red  Dead  Redemption z.B. als Mordopfer), wurden die Drohung so vehement, dass sie ihre Wohnung verlassen musste.

Einen Tag später, als ich obige Sätze endlich hinschreiben kann, ist das Hashtag #gamergate ein wenig in den Hintergrund gerückt. Stattdessen lese ich morgens Nachrichten über Soli-Nacktfotos für die Schauspielerin Jennifer Lawrence („#leakforjlaw“). Ein Hacker hatte vermutlich mittels einer Sicherheitslücke in Apples iCloud-Service Nackfotos von Lawrence und anderen Schauspielerinnen erbeutet. Veröffentlicht wurden sie zuerst auf 4Chan, später dann auf dem zu Condé Nast gehörenden Diskussionsforum Reddit. Am frühen Abend, also bei Beendigung dieses Satzes, war die Sicherheitslücke nach Angaben von Apple bereits wieder geschlossen, aber auf Twitter erteilen mittelalte Männer der 24-jährigen Schauspielerin trotzdem gute Ratschläge in Sachen Datensicherheit („Zweifaktorautorisierung benutzen“) oder versuchen, den Datendiebstahl zu einer Art Unterrichtsstunde in Datensicherheit für jedermann zu stilisieren, ganz so als ob jedermanns Körper derart voyeuristisch besetzt werden könnte, wie es der von jungen Frauen ist.

 

Das lange Fortleben des Cyberspace

Spätestens jetzt sollte auffallen, dass „Gegenwart“ vielleicht an dieser Stelle der falsche Ausdruck ist. Denn was all diese Übergriffe auszeichnet, ist ein Anachronismus. Im Computerspiel, der technisch fortschrittlichsten Kunstform, leben Stereotypen aus der Hochzeit des Manchester-Kapitalismus fort. Und die Aufregung findet in einem Medium statt, das wie kein zweites die Fantasie der Counterculture stimulieren konnte: dem Internet.

Wir erschaffen eine Welt, in der jeder Einzelne an jedem Ort seine oder ihre Überzeugungen ausdrücken darf, wie individuell sie auch sind, ohne Angst davor, im Schweigen der Konformität aufgehen zu müssen.¹

Das schreibt der ehemalige Grateful-Dead-Texter John Perry Barlow in seiner Unabhängigkeitserklärung  des  Cyberspace: „Unsere persönlichen Identitäten haben keine Körper.“ Barlows euphorische Befreiung vom Körper stellte für ihn zugleich eine Befreiung von der Regierung dar, die er im Paradigma der Disziplinargesellschaft begreift. Die Regierung regiert über den Zugriff auf die Körper, also hat sie im Cyberspace keine Macht mehr. 18 Jahre später wird ein Kampf über die Repräsentationen weiblicher Körper im „Cyberspace“ geführt und die Regierung spielt tatsächlich keine Rolle ‒ Macht aber schon. Barlow gehört zu öffentlichtkeitswirksamsten Vertretern des Cyberlibertärianismus, der „kalifornischen Ideologie“ (Richard Barbrook) einer Vermengung klassisch libertärer Ideen mit der Technologiebegeisterung
Kaliforniens, deren Wurzeln bis zur Counterculture der 1960er, und hier besonders den New Communalists um Stewart Brand, zurückreicht. In den mittleren 1990ern waren Barlow, Brand, Esther Dyson und Kevin Kelly diejenigen, die den Fortschritten in der Computer‒ und Netzwerktechnologie einen kulturellen Rahmen verpassten und teils den Kontakt zur Politik (ironischerweise zum Republikaner Newt Gingrich) suchten. Eines der zentralen rhetorischen Motive, die sie aus den 1960ern entlehnten, ist das der „Freien Meinungsäußerung“, der „Free Speech“.  Anders als beim historischen „Berkeley Free Speech Movement“ war für sie die freie Meinungsäußerung jedoch mit dem Computer  vereinbar.2

[T]he students of the Free Speech Movement were afraid not only of becoming victims of a social machine, but also of becoming fuel for the engines of economic production. In the 1990s, the computer once again served as a metaphor for the organization of production and labor, but this time that link promised to liberate both individuals and society.3

Das zeigt sich auch in Barlows Erklärung, die sich explizit gegen den Telecommunications Act der Clinton-Regierung richtete, der neben der Aufhebung von Wettbewerbsbeschränkungen auch Regelungen für den Umgang mit Pornographie im Internet vorsah.

Eine halbe Woche nach dem Nacktfoto-Leak veröffentlicht Yishan Wong, der CEO von Reddit, einen Text auf seinem Blog, in dem er eine Entscheidung seines Unternehmens verteidigt. Die Nacktfotos waren überwiegend durch den Subreddit „/r/TheFappening“ verbreitet worden, worauf Reddit sich entschloss, diesen Subreddit zu löschen. Das wiederum führte zu Diskussionen, ob Reddit damit nicht das Prinzip der „freien Meinungsäußerung“ verletze. Reddit selbst bekennt sich zur „Free Speech“ und beschreibt sich als „Regierung eines neuen Typs von Community“, in der die User selbst entscheiden können, was sie für „tugendhaft“ halten.4   Das Unternehmen, dessen Wert auf 240 Millionen Dollar geschätzt wird, sieht sich also selbst in der Tradition von Barlows „Unabhängigkeitserklärung“.

Das ausgeschlossene Dritte ist dabei der weibliche Körper, in diesem Fall das Recht der durchweg weiblichen Celebritys, über selbstgeschossene Bilder ihres Körpers auch selbst verfügen zu können. Hier zeigt sich die vergessene Seite des Cyberlibertärianismus. Für Barlow ist die Körperlosigkeit Grundlage einer neuer Kultur, in der sich eine „Regierungsweise (...) aus der Ethik, dem aufgeklärten Selbstinteresse und dem Gemeinschaftswohl eigenständig entwickeln wird.“ Der Cyberspace, bei seinem Erfinder William Gibson noch ein Raum der unerbittlichen, entkörperlichten Konkurrenz, wird bei Barlow durch eben diese Entkörperlichung zur Verwirklichung eines herrschaftsfreien Diskurses.

So kann man sich irren. Letzlich zeigt sich hier, dass die gleiche Technologie, die marginalisierten Gruppen die Möglichkeit von Selbstorganisation, Selbstbestimmung und Sichtbarkeit gegeben hat5, immer wieder dominante Diskursregime reproduziert. Egal, ob die Angriffe auf Sarkeesian oder Quinn oder die gehackten CelebrityNacktfotos: Alle drei „Fälle“ zeigen, wie eigentlich überkommene kulturelle Stereotypen gerade im Cyberspace zu Residuen werden können. Sarkeesian zeigt, wie der Stereotyp der „Damsel in Distress“, die von einem männlichen Helden gerettet wird, ungebrochen in Videospielen rekonstruiert wird. Damit fallen diese Videospiele weit hinter traditionelle kulturindustrielle Erzeugnisse zurück. In Buffy  the   Vampire  Slayer, das im gleichen Jahr wie Barlows Erklärung das Licht der Welt erblickte, konnte die blonde Heldin sich andauernd aus eigener Kraft befreien, wenn ein Monster sie in die Enge getrieben hatte. Kein Wunder, dass Buffy-Autor Joss Whedon Sarkeesian öffentlich unterstützte.6 Sarkeesian wird zudem immer wieder beschuldigt, keine „echte“ Gamerin zu sein ‒ ein Vorwurf, den man gut aus Theorie- und Musik-affinen linken Kreisen kennt, wo die berechtigte Forderung nach Teilhabe von Frauen und LGBTQIs gerne damit abgetan wird, der oder die Fordernde möge sich doch bitte erstmal über die entsprechende Platten- oder Büchersammlung vorbilden, bevor er/sie den Mund aufmacht.

Wie kommt es aber, dass eine Ideologie, die offensiv die Zukunft und das Wohl vieler für sich reklamiert, so offensichtlich ignorant gegenüber Stimmen ist, die die Führungsrolle dieser Ideologie in Frage stellen? In seinem Gedicht „All watched over by machines of loving grace“ beschreibt Richard Brautigan eine pastorale Zukunft, in der Computer zu einer neuen Harmonie von Mensch und Kultur führen:

I like to think (and the sooner the better!) of a cybernetic meadow where mammals and computers live together in mutually programming harmony like pure water touching clear sky.

I like to think (right now, please!) of a cybernetic forest filled with pines and electronics where deer stroll peacefully past computers as if they were flowers with spinning blossoms.

I like to think (it has to be!) of a cybernetic ecology where we are free of our labors and joined back to nature, returned to our mammal brothers and sisters, and all watched over by machines of loving grace.7

Brautigan schrieb dieses Gedicht 1967 im Kontext der kalifornischen New   Communalists, greift damit aber letztlich eine Idee aus der Frühzeit der Computer auf. Exemplarisch dafür steht etwa die politische Theorie von Jay Wright Forrester, nach der ein technologisch reguliertes System die Fehlerhaftigkeit der herkömmlichen politischen Auseinandersetzung eliminiert und damit für Harmonie sorgt ‒ technologisch wie sozial.8 Im Gegensatz zum #Akzelerationismus, der Computern ebenfalls eine zentrale Rolle bei der Gestaltung der Gesellschaft zuweist, wird in Forresters Modell die Politik, das Ringen antagonistischer Positionen um Hegemonie, durch eine technologische Lösung überflüssig. Dabei ist zweitrangig, ob das von Forrester postulierte, technodeterministische Ideal überhaupt technisch realisiert werden kann bzw. realisiert worden ist. Alle, die schon mal einen Computer benutzt haben, kennen die Fehleranfälligkeit von Software und Hardware. Entscheidend ist, dass sich seine Vorstellung als politisches und ästhetisches Ideal etabliert hat. Das gilt ebnso für den rechten Rand der Netzideologen wie den cyberlibertären PayPal-Gründer Peter Thiel, der von einer kapitalistisch-libertären Insel vor der kaliformischen Küste träumt oder die selbsternannten Neo-Reaktionäre um den Informatiker Curtis Yavin, aka Moldbug, und den ehemaligen PhilosophieProfessor Nick Land, die mit offenem Bio-Faschismus für eine Rückkehr zu einer prä-aufklärerischen Gesellschaftsformation plädieren.  Aber es gilt auch für eine sich als „liberal“ verstehenden Silicon-Valley-Mainstream und zeigt sich dort in den abwiegelnden Reaktionen auf sozialen Protest ‒ nicht nur was Sexismus innerhalb der Gaming Community angeht, sondern auch im Unverständnis gegenüber den Anti-Gentrifizierungs-Protesten in San Francisco, bei denen unter anderem der firmeneigene Busservice von Google blockiert wurde und der Konflikt zwischen dem gut bezahlten Techsektor und in anderen Dienstleistungjobs tätigen Arbeitern in der Bay Area offensichtlich wird. 

[T]his utopian fantasy of the West Coast depends upon its blindness towards ‒ and dependence on ‒ the social and racial polarisation of the society from which it was born. Despite its radical rhetoric, the Californian Ideology is ultimately pessimistic about fundamental social change.9

Wie Barlows Text sind auch diese Zeilen von 1996. Verfasst hat sie Richard Barbrook, ein britischer Situationist und Medienwissenschaftler. Zwischen seiner Bestandsaufnahme und heute liegen das Platzen der DotCom-Blase, 9/11, der Aufstieg von Facebook, Google und Apple, der Kampf der Musikindustrie mit YouTube, eine immer noch nicht beendete Finanzkrise, eine „Twitter-Revolution“ ohne Revolution im Iran, eine „Facebook-Revolution“ ohne Revolution in Ägypten, die gescheiterten Occupy-Camps in New York und anderen Städten, die aus dem Versagen der politischen Repräsentation geborenen Riots in England, der Aufstieg des postmodernen Islamismus, das Smartphone in den Hosentaschen der westlichen Welt. Und natürlich Millionen von Terabyte an „user-generated content“, der das Geschäftsmodell der neuen Giganten aus fiberoptischen Kabeln und seltenen Erden befeuert.  Trotz der anhaltenden Computerisierung unserer Arbeit, unserer Beziehungen und unserer Kultur ist die Welt um uns herum noch konservativer geworden, als sie es vor 19 Jahren war. Schöne Scheiße.

 

Der Taschencomputer als Tor zur Vergangenheit

 

Das alles liegt selbstverständlich weniger an den Produktionsmitteln als an den Produktionsverhältnissen, in denen diese Mittel eingebunden sind. Und vermutlich müsste man die Verheißungen der „kalifornischen Ideologie“ auch ein wenig geglaubt haben, um davon wirklich überrascht zu sein. Trotzdem ist eins merkwürdig: Die Computerisierung unseres Alltags hat nicht nur soziale Verhältnisse zementiert, sondern auch ästhetische Formen.

In einem Apple-Werbespot von 2012 steht Zooey Deschanel, Prototyp des Manic Pixie Dream Girl, inmitten ihrer mit Authentizitäts-Signifikanten (Banjo, Klavier, Notenblätter) vollgestellten Wohnung. Draußen schlägt der Regen an die Scheibe, drinnen ist es heimelig, Deschanel trägt Pyjama. „Is it raining?“, fragt Deschanel ihr iPhone und Siri, Apples Variante der digitalen Sekretärin, antwortet: „Yes, it is raining.“ Im Folgenden enspannt sich ein Dialog, in dem Deschanel Siri dafür nutzen wird, um Essen zu bestellen, sich vor dem Aufräumen zu drücken und „Shake, Rattle and Roll“ über die Anlage spielen zu lassen ‒ selbstverständlich im Original von Billy Joe Turner, nicht in der Coverversion von Bill Haley. Siri dient der Einrichtung unseres Lebens, sie unterstützt unser Slackertum, das aber letztlich längst mit sich und seiner Umwelt im Reinen ist.  Das ist es, was unsere heutigen Häuser so modern und ansprechend macht: ein Banjo, ein Klavier, ein vergammelter Tag in Make-Up und Pyjama sowie ein tragbarer Computer, mit dem sich Suppe bestellen lässt, und der mit einem spricht. Und anders als HAL aus 2001 wird Siri uns nicht die Schleusentore vor der Nase zuschlagen ‒ sie will ja schließlich unsere Daten. 

Apple ist das Musterbeispiel dafür, wie moderne Technologie mit einem ästhetischen und sozialen Konservatismus einhergeht, ja die analoge Welt in einer digitalen Umgebung soweit nachgebildet wird, dass die dahinterliegende Technologie unsichtbar wird. Dass dabei Popmusik im Mittelpunkt steht, ist wenig überraschend ‒ Babyboomer kapitalisieren Rockmusik bis ins hohe Lebensalter als ihren höchsteigenen, organischen Lebensausdruck. Im September 2014 verteilte Apple das letzte U2-Album kostenlos an alle Kunden ihres iTunes-Ladens.  Und war Steve Jobs nicht auch großer Neil-Young-Fan?10 Aber das Phänomen der Simulation des Analogen in einer digitalen Umgebung findet sich nicht nur beim Hardware-Hersteller aus Cupertino.

Der möglichst auf authentischen, historischen Instrumenten gespielte Blues von Jack White  auf seinen letzten beiden Alben „Lazzaretto“ und „Blunderbuss“ würde wesentlich weniger Käufer finden, wenn er nicht mit digitalem Equipment so gemastert wird, dass die Nuancen auch auf einem iPod-Kopfhörer zu hören sind, nachdem sie per Algorithmus (z.B. MP3 oder Apples AAC) komprimiert wurden. Und als die eigentliche Leistung von David Hockneys iPad-Bildern wird herausgestellt, dass man sie nicht von seinen gemalten Arbeiten unterscheiden kann. Selbst in der Ikonografie der Nachrichtenfotografie setzt sich diese Tendenz fort. Frank Schirrmachers vielbeachtete Wende hin zum „Linken“ im Sommer 2011 wurde mit einem Bild eines Trading Floors bebildert anstatt mit dem vielleicht realistischeren Bild eines Datencenters, das für den Börsenhandel unabdingbar geworden ist.

Das Fehlen einer avancierten Form hat dabei weniger mit den technischen Möglichkeiten zu tun, sondern Technologie ermöglicht diese formale Regression erst. Simon Reynolds macht in „Retromania“ die digitale Verfügbarkeit der Vergangenheit für diesen Trend mitverantwortlich:

Seit die kulturelle Datenmenge nicht mehr an ein physisches Material gebunden ist, sind unsere Kapazitäten, diese zu lagern, zu sortieren und darauf zuzugreifen, unglaublich gestiegen. Die Komprimierung von Text, Bild und Ton führt dazu, dass Raum- und Kostenfragen uns nicht mehr davon abhalten, alles und jedes, was auch nur annähernd interessant oder unterhaltsam scheint, zu konservieren. (...) Damit hat sich ein tiefgreifender Umbruch ereignet, bei dem YouTube einerseits als wichtiger Akteur und andererseits als wirkungsmächtiges Symbol fungiert: eine astronomische Expansion der Ressourcen des menschlichen Gedächtnisses. (...) Trotzdem gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass unsere Fähigkeit, diese Erinnerungen zu verarbeiten oder sie sinnvoll zu gebrauchen, wesentlich zugenommen hätte.11

Reynolds benennt den Widerspruch deutlich. Letztlich steht jedem Computernutzer genug Technologie zur Verfügung, um daraus Formen zu entwickeln, für die die Nachkriegsavantgarde ‒ egal ob akademisch wie Stockhausen oder populär wie der BBC Radiophonic Workshop ‒ noch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk benötigte. Gleiches gilt für die Musikgeschichtlichen Archive. Unterhält man sich mit Pop-Musikern, egal ob Max Herre oder The Bug, wird das Archiv ‒ der Plattenladen, die Sammlung von Freunden, die Bibliothek ‒ in der Regel als Inspiration beschrieben, als Ausgangspunkt für die eigene Arbeit. Digitale Archive sind leichter zugänglich als vor 15 Jahren, ebenso steht uns die Technologie der Avantgarde auf dem Schreibtisch zur Verfügung ‒ warum aber ist die (Pop-)Musik dann formell so entsetzlich langweilig geworden?

Einen Teil der Antwort kann man in den technologischen Rahmenbedingungen finden, unter denen uns die Masse an Musik überhaupt zur Verfügung gestellt wird. Bei den Archivaren der „alten“ Musikindustrie ‒ HMV, X-Mist, a-Musik ‒ ließ sich noch eine klare Trennung zwischen Gebrauchs- und Tauschwert ausmachen. Gekauft wurde die Musik aus Interesse an der Musik selbst, zur subkulturellen Identitätskonstruktion („Echte Wire-Leser hören kein TImbaland“), als Soundtrack zum Sex ‒ whatever. Wichtig ist lediglich, dass Kaufen und die weitere Verwendung der gekauften Platte noch relativ leicht zu unterscheiden waren. Ob die Disco-Platte aufgelegt oder verbrannt wurde, war für das Geschäftsmodell egal. Das ist bei YouTube, dem größten Musikarchiv der Welt, anders. Was für uns einen Gebrauchswert abwirft, zum Beispiel eine Party voll mit hübschen Jungs per YouTube-Italo-Pop-Playlist zum Tanzen zu bringen, dient direkt dem Mehrwert den sich diejenigen aneignen, die uns die Technologie zur ‒ in der Regel lizensierten ‒ Verfügung stellen.  Matteo Pasquinelli12 beschreibt dies am Beispiel von Googles PageRank, dem Algorithmus, mit dem Google die Ergebnisse für seinen Suchmaschinendienst ordnet , das dahinterliegende Prinzip gilt jedoch auch für die Google-Tochter YouTube. Jedes Mal, wenn wir eine Website verlinken oder einem Link folgen, liefern wir Google Informationen, die dazu dienen, ihr Produkt zu verbessern, wir generieren einen „semantischen Wert“ über die Produktion von Differenz und der von Google sichtbar gemachten Bündelung von Aufmerksamkeit: dem, was Pasquinelli „soziales Begehren“ nennt. Pasquinelli bezeichnet die Monetarisierung dieser Form von „lebendiger Arbeit“ als „Netzwerk-Mehrwert“. Dieser wird kollektiv im Netzwerk produziert und von der immateriellen Fabrik Google abgeschöpft wird. Google verwandelt diesen beispielsweise dann in seiner Rolle als größter Werbeanbieter im Internet in einen Tauschwert, von dem dann wieder ein Teil an die Rechteinhaber ausgeschüttet worden wird. Anders als im Plattenladen bleibt uns Hörern der Tauschwert aber verborgen, bzw. wir erleben ihn nur dann, wenn die Verhandlungen zwischen den Vertretern von Musikindustrie, der GEMA und dem Verwerter YouTube fehlschlagen.

Letztlich zeigen sich im Konflikt zwischen Google und Plattenlabels viele Grundzüge einer Veränderung innerhalb der Kulturindustrie, die nicht mehr nach dem klassisch-fordistischen Schema funktioniert.13  Die Plattenlabels, egal ob Universal oder Thrill Jockey, fungieren dabei als Vertreter dessen, was McKenzie Wark als „vektorale Klasse“ bezeichnet, dem Teil der herrschenden Klasse, „der seine Macht über das geistige Eigentum und die Kontrolle des Informations-Vektors sichert.“14 Google ist in seiner Eigenschaft als Patenthalter seiner Suchalgorithmen ebenfalls Teil dieser vektoralen Klasse, als Betreiber von YouTube aber auch Teil dessen, was Wark als die „vulture industry“ bezeichnet, eine Form der Kulturindustrie, die nicht mehr direkt mit der Herstellung von Waren, sondern mit ihrer Distribution und dem Abschöpfen von Rente beschäftigt ist.15 Die „vulture industry“ habe sich teilweise als Reaktion auf die Tatsache herausgebildet, dass die Produkte der Kulturindustrie durch die Digitalisierung wieder „resozialisiert“ sind. Für das Funktionieren von YouTube und dem Abschöpfen des sozialen Mehrwerts ist es demnach zweitrangig, ob die Musik, die wir hören und klassifizieren, urheberrechtlich geschützt, ein illegaler Remix ist oder unter einer Creative‒Commons-Lizenz steht. Wichtig ist lediglich, dass  all dies auf Googles Plattformen, bzw. mit den entsprechenden Tracking Cookies im Hintergrund, stattfindet. Die Wichtigkeit des Archivs korrespondiert also mit einer kulturindustriellen Konfiguration und trotz der Konflikte zwischen Plattenlabels und Google hat keine der Parteien ein Interesse daran, uns Hörern das Nutzen des Archivs YouTube abzugewöhnen.
 
Damit sind wir an einem zweiten Punkt: Warum funktioniert YouTube als soziales Netzwerk überhaupt? Sicher, es gibt das Angebot an Musik, aber das gibt es auch bei Spotify, Soundcloud oder anderen Streamingdiensten. Was führt aber dazu, dass manche von uns lieber Links auf YouTube folgen anstatt uns durch die eigene Plattensammlung zu wühlen? Es wird vielfach behauptet, dass Musik mit der Digitalisierung eine „haptische“ Qualität, etwa beim Cover oder bei den Paratexten verloren hätte. „Haptisch“ ist dabei Code für eine affektive Besetzung des Objekts Tonträger. In dieser Argumentation wird gerne übersehen, dass Musikhören via YouTube ebenfalls affektiv besetzt ist ‒ wenngleich diese Affekte weniger auf den Tonträger fokussiert, sondern auf Netzwerk selbst.  Jodi Dean beschreibt soziale Netzwerke deshalb auch als  „affektive Netzwerke“.16 Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie Affekte einfangen  und verstärken, um sie dann letztlich auch wieder in Werbealgorithmen einzuspeisen. Das Resultat ist ein permanentes Feedback, Zirkulation von Information um ihrer Selbst willen. Entscheidend ist hierbei das Abschöpfen dieses Affekts für möglichst lange Zeit im eigenen Netzwerk. Wir werden in unserer Passivität in diese Netzwerke eingebunden, in denen zwar Informationen zirkulieren, aber nicht diejenigen, die wir zum Handeln benötigen. Für Dean sieht dies am ehesten in der Zirkulation von Bildern verkörpert. Diese Bilder stehen nicht nur für sich selbst, sondern sind mit einer Intensität aufgeladen, die ihre Zirkulation beschleunigt. Selbstverständlich gilt das auch für Musikvideos, egal ob es ein verwackeltes Handyvideo ist, ein von der Band autorisiertes oder die unzähligen, unautorisierten Varianten von „Gangnam Style“ oder dem „Harlem Shake“.
 
 
Was tun, wenn Punk Teil des Problems ist?
 
 
Die Frage, die sich hier stellt, ist die nach ästhetischen und politischen Gegenstrategien. Letztere lassen sich jedoch nur schwer als Text realisieren, sondern sind als Aushandlungsprozess eh besser an anderer Stelle aufgehoben. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle auf eine ästhetische Gegenstrategie bzw. einige zaghafte Ideen, wie diese vielleicht aussehen könnte, konzentrieren.
 
Dazu muss ich jedoch etwas ausholen. Es gibt eine linke Kritik, die ‒ häufig in Anlehnung an Frederic Jameson ‒ eine Kooptation der modernistischen Avantgarde in den Oberflächen von Postmoderne und Popkultur beklagt. Beispiele dafür finden sich viele: Die Simpsons haben den V-Effekt in eine mittlerweile 25 Jahre dauernde Familiensaga eingepflegt, die Montage ist Bestandteil selbst linear erzählter Dokumentarfilme. Aber diese Kritik ist ein wenig wohlfeil, zumindest wenn sie sich damit zufrieden gibt, über das Verschwinden einer alten Avantgarde zu lamentieren, ohne sich zu fragen, welche Form denn eine den (wie minimal auch immer) veränderten Verhältnissen angemessene Avantgarde haben könnte.
 
In der vernetzten Form der Kulturindustrie mit ihren Kämpfen innerhalb der vektoralen Klasse ist es besonders die alte avantgardistische Forderung nach dem Verschwinden des genialischen Künstlers, die sich die Kulturindustrie angeeignet hat.  Urheberschaft (was nicht zwangsläufig das gleiche wie der Besitz des Copyrights ist) ist für die zeitgenössische kulturindustrielle Praxis zu vernachlässigen. Egal ob Dogespeak, LOLcats, geloopte GiFs oder der „Gangnam Style“ ‒ der entscheidende Faktor dieser Kunst ist ihre Zirkulierbarkeit in sozialen Netzwerken.
 
Die Frage ist jedoch, ob man auf diese Bedingungen antworten möchte, wie es die Ausstellung „Anna Kournikova Deleted By Memeright Trusted System ‒ Kunst im Zeitalter des Geistigen Eigentums“, die 2008 im Dortmunder Hartware Medienkunstverein zu sehen war, getan hat.17 Zwar illustrierten die ausgestellten Kunstwerke von Negativland, monochrom oder Nate Harrison die Widersprüche zwischen einer kollektiven Kunst- und Wissensproduktion und den Versuchen, diese Produktion in die kapitalistische Eigentumsordnung zu überführen mit Humor und formaler Spielfreude. Damit trägt die Aussstellung zwar dazu bei eine zentrale Forderung von Matteo Pasquinelli zu erfüllen, der der Ansicht ist, man müsse das „das Wissen des molekularen Dispositivs“ verstehen, „welches den Netzwerkwert produziert.“ Aber gleichzeitig bleibt das Wissen, was in der Ausstellung erzeugt wird, aufgrund ihres Charakters als Installation von der notwendigen Zirkulation ausgeschlossen. Ebenso wie die Institutionskritik funktioniert auch die copyrightkritische Kunst zuerst als Bestandteil des Kunstbetriebs ‒ trotz eines frei im Netz verfügbaren Katalogs. Gleichzeitig ist es vielleicht auch nicht der geschickeste Weg, auf die Bedingungen einer digital vernetzten Kulturindustrie hinzuweisen, indem man mit der Form des Remix arbeitet, der ja per se nicht inkompatibel zu eben dieser Kulturindustrie ist. Eine Arbeit wie Negativlands „Gimme the Mermaid“, die Video- und Songfragmente von Disneys Arielle  die  Meerjungfrau und Black Flags „Gimme Gimme Gimme“ collagiert, ist ja in ihrer zweidimensionalen Cut-Up-Ästhetik nicht weit von den Memes entfernt, die sich über den Feminismus von Anita Sarkeesian echauffieren.

Damit sind sie die Kehrseite des zweiten ästhetischen Moment der digitalen Kultur, die uns umgibt, die im Titel von Richard Brautigans Gedicht „All Watched Over By Machines Of Loving Grace“ angedeutet wird. Die Maschinen, von denen hier die Rede ist, sind „von liebevoller Anmut“, also der Symmetrie, der Schönheit; und eben nicht Maschinen des Erhabenen, der Kategorie, die im Zweifelsfall für das Schaudern zuständig sein soll. Nun wäre es sicher verkehrt, das Erhabene als ästhetische Kategorie wieder per se legitimieren zu wollen. Aber wenn sowohl die funktionale Anmut als auch eine an Punk und HipHop angelehnte Cut-Up und Remix-Praxis so leicht wieder in die Zirkulation der sozialen Netzwerke überführt werden können, warum sucht man dann nicht nach einer Kunst, die innerhalb einer vernetzten Zirkulation für einen Moment des Durchatmens sorgen kann?

Man kann dafür in die Retro-Transzendenz-Szenen schauen, in denen der kosmische Teil von Krautrock und Ambient mit Modularsynthesizern und BoutiqueEffektpedalen rekonstruiert wird. Oder man schaut in den Mainstream, wo sich ein ähnliches Bedürfnis mit der Technologie von Heute artikuliert. In meinen diversen Timelines tauchten in den letzten zwei Jahren immer wieder Videoclips von FKA Twigs auf. Aber anders als viele andere Clips, die man als Musikautor so zu sehen bekommt, liefen diese dem Prinzip der Timeline zuwider. Sie verlangten eine Aufmerksamkeit und Konzentration von mir, ihre Geschichte entfaltete sich langsam. Bilder und Musik widersetzten sich der schnellen Einordnung in eins der (teils parodistischen) Mikrogenres, die unseren Alltag bestimmen. In „Water Me“ pendelt sich das Gesicht von FKA Twigs mit langen Zöpfen und dem üppig aufgetragenen Rouge vor der Kamera ein. Im Hintergrund läuft dabei ein Hybrid aus Post-Dubstep und minimalistischem R&B. Dann öffnet FKA Twigs ihre pechschwarzen Augen und fängt an zu singen. Dabei verliert ihr Gesicht die Proportionen und ihre Augen weiten sich, bis sie dem unrealistischen Schönheitsideal eines Mangas entspricht. Bei FKA Twigs wird der Körper wieder grotesk, aber auf die perfekteste Art und Weise. Ebenso wie der Körper verliert auch die Musik bei FKA Twigs schnell ihre Proportionen. Die vom venezolanischen Laptop-Musiker Arca produzierten Stücke folgen zwar dem klassischen R&B-Muster aus synkopierten Beats, euphorischen Kieksern und Basslinien, aber FKA Twigs lässt all dies zerstäuben: Das Kieksen wird zu einem verhallten Hauchen und die Synkopen entdecken die Langsamkeit für sich. Wie bei einem Filmschnitt fallen ihre Songs auf ihren Höhepunkten in die Stille,   bevor sie wieder aufgefangen werden ‒ von einem flattrigen Subbass oder von einem gehauchten Vokal   In „Ache“ dagegen zerlegt FKA Twigs die Zeichen zeitgenössischer Dance-Musik.  Ein Tänzer steht in einer Tiefgarage im Neonlicht. Er trägt einen Kopfschutz und eine Bomberjacke. Er nähert er sich dem Neonlicht, dann fällt er in einen Tanz aus geballten Fäusten und raumgreifenden Armbewegungen - alles in Zeitlupe. Der Tänzer ist ein Mitglied einer Londoner Tanzgruppe. Den Tanz, den er in Zeitlupe aufführt, nennt sich Krump. Es ist eine Street Dance-Form aus LA, entstanden in den 1990ern. In den Nullerjahren wurden seine aggressiven, maskulinen Bewegungen als Antithese zur kommerziellen Bling-Ästhetik von HipHop gefeiert. Bei FKA Twigs zerschmelzen diese Moves. Sie betont die Zärtlichkeit der Bewegungen, die körperlichen und affektiven Anstrengungen, die in die Inszenierung der Straßenhärte von Krumping fließen. So macht sie die affektive Arbeit sichtbar, die in Pop-Musik und ihre Bilder fließt.  

Ein wenig werden die Videos von FKA Twigs so zu einer Antithese der Bilder, die unseren vernetzten Alltag bestimmen: der geloopte Gesichtsausdruck, oder die Geschichte, die mit wackliger Hand mit dem Smartphone aufgenommen wird, um sie dem eigenen Freundeskreis zu zeigen. Bilder, die sinnlich aufgeladen sind und deren Erzählweise so weit wie möglich verdichtet ist. FKA Twigs verlangt etwas anderes von ihren digital erzeugten Bildern: Sie sollen einen Moment des Staunens zurückbringen, in dem die Zeit still steht. Ein wenig steht FKA Twigs  außerhalb des Zwangs zum Teilen, des Viralen, das die Währung der digital vernetzten Kulturindustrie ist. Ihre Bilder wollen uns nicht verführen. Wir müssen sie nicht teilen, wir brauchen sie nicht zu kommentieren. Sie sind schlicht zu erhaben, um sie zu verfremden. Wir können zusehen, nicht mehr. Die Videos von FKA Twigs widersetzen sich so dem Imperativ digitaler Verwertbarkeit ‒ zumindest ein wenig. Dass trotzdem gerade alle ‒ Medien wie Fans ‒ über sie reden, heisst nur, dass FKA Twigs mit diesem Bedürfnis nicht alleine ist.

1 John Perry Barlow. „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ www.heise.de/tp/artikel/1/1028/1.html (27.8.2014)
2 vgl. Fred Turner: From  Counterculture  to  Cyberculture.  Stewart  Brand,  the  Whole  Earth   Network,  and  the  Rise  of  Digital  Utopianism. Chicago: University  of  Chicago  Press  2006, S. 1117.  Der gleiche Widerspruch zeigt sich ja auch im Herzen des NSA-Skandals. Im Silicon Valley ist nicht der Privatbesitz an gesammelten Daten das Problem, sondern die Tatsache, dass diese US-Regierungsbehörden zur Verfügung stehen.
3 ebd. S. 16
4 Yishan Wong: „Every Man Is Responsible For His Own Soul“ http://www.redditblog.com/2014/09/every-man-is-responsible-for-his-own.html (14.9.2014)
5 Zu den eifrigsten Nutzern früher BBS-Boards in der Bay Area gehörten Schwule, die sich dort nicht nur über Treffpunkte informieren konnten, sondern in Zeiten der AIDSHysterie auch Zugang zu Informationen und eine Möglichkeit der politischen Organisation hatten. vgl. David Auerbach: „The First Gay Space on the Internet“ http://www.slate.com/articles/technology/bitwise/2014/08/online_gay_culture_and_soc_motss_how_a_usenet_group_anticipated_how_we_use. html (20.8.2014)
6 Joss Whedon (@josswhedon) „I watched a bunch of women get sliced up in video games and now I'm watching it on my twitter feed. @femfreq is just truth-telling. Deal.“ https://twitter.com/josswhedon/status/504508687722250240 (28.8. 2014)
7 Richard Brautigan: „All watched over by machines of loving grace“ (1967). http://allpoetry.com/All-Watched-Over-By-Machines-Of-Loving-Grace 8 David F. Noble. Forces  of  Production.  A  Social  History  of  Industrial  Automation. New York: Knopf 1984. S. 55.
9 Richard Barbrook „The Californian Ideology“ http://www.imaginaryfutures.net/2007/04/17/the-californian-ideology-2/ (12.9.2014) 10 Der Autor dieses auf einem Mac geschriebenen Textes ist ebenfalls Neil-Young-Fan ‒ nur falls jemand, der Ansicht ist, dass sich aus dem Musikgeschmack politische Präferenzen ableiten lassen.
11 Simon Reynolds: Retromania. Mainz: Ventil 2012. S. 84 ff.
12 Matteo Pasquinelli. „Googles PageRank. Diagramm des kognitiven Kapitalismus und Rentier des gemeinsamen Wissens“ http://www.bpb.de/themen/F6S19C,0,Googles_PageRank.html (29.8.2014)
13 Besonders empfehlenswert dazu: Roger Behrens’ Beitrag in dieser testcard.
14 McKenzie Wark: Telesthesia.  Communication,  Culture  &  Class.  Cambridge: Polity  2012. S. 208 (Übersetzung d. Autors)
15 ebd. S.208
16 vgl. Jodi Dean. Blog  Theory. Cambridge, Polity. S.91 ff.
17 vgl. Imke Arns/Francis Hunger: Anna  Kournikova  Deleted  By  Memeright  Trusted  System   –  Kunst  im  Zeitalter  des  Geistigen  Eigentums. Dortmund: HMKV 2008.

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